Das Dilemma mit der Systemrelevanz

Jenga-Turm

Es sind immer ganz spezielle Ereignisse und natürlich auch Krisen, die besondere Begrifflichkeiten oder Aussagen zu Tage fördern, die für viel Diskussionsstoff sorgen. Die Politik steht hier erfahrungsgemäß an vorderster Front. So wurde der von Donald Trump geprägte Begriff „Fake News“ quasi zum Synonym für jegliche Art von scheinbaren Falschmeldungen bzw. Unwahrheiten. Die deutsche Bezeichnung wäre hier eigentlich „Ente“, aber das hört sich natürlich nicht so cool an.

Und natürlich erinnert sich noch jeder an die unglückliche Aussage von Frau Merkel zur Flüchlingskrise. Ihr Satz „Wir schaffen das“ sollte eigentlich zu Solidarität und Gemeinsamkeit aufrufen und ein sicheres Gefühl vermitteln - das Gegenteil war der Fall. Warum? Die Bevölkerung sah das als unhaltbare Bevormundung, fühlte sich missverstanden bzw. überhaupt nicht gefragt. Wohlwissend hat unsere Kanzlerin diese Aussage in der aktuellen Coronakrise nicht wiederholt und stattdessen bekundet „Wir lassen niemanden allein“. Ob das gerade in der Zeit nach der Krise auch wirklich der Fall sein wird, daran werden sich Frau Merkel und die Bundesregierung messen lassen müssen. Vergleichbar ist die Situation mit der Flüchtlingskrise dahingehend, dass es hier in noch größerem Maße um eine Bevormundung der Bevölkerung geht und darüber hinaus gesetzlich definierte Grundrechte außer Kraft gesetzt werden – zum Schutz von Menschenleben.

In diesem Zusammenhang sorgt ein ganz anderer Begriff für mehr und mehr Verwirrung und Diskussionsstoff in Deutschland: Systemrelevanz. Dieses Wort wurde erstmals 1914 in den USA (Too big to fail) verwendet und bezeichnet im Grundsatz eine staatliche Rettungsaktion (https://de.wikipedia.org/wiki/Systemrelevanz). In jüngerer Zeit ist uns dieser Begriff wahrscheinlich erst seit der großen Bankenkrise 2008 ein Begriff, denn hier wurde nach Systemrelevanz entschieden, welche Banken fortbestehen dürfen/müssen und welche nicht. Das sorgte in allen Teilen der Gesellschaft für extremen Unmut, da man es als inakzeptabel empfand, die Auslöser der Krise mit enormen Steuergeldern zu retten, während es für viele Anleger, für die Wirtschaft bzw. Unternehmen, die dadurch unverschuldet in Schieflage geraten sind bzw. Kapital verloren haben, keine vergleichbaren Hilfen gab.

Das ist in der Coronakrise ganz anders. Wir haben keinen „Sündenbock“*, keinen Schuldigen für die Krise, den wir als Menschen immer benötigen, um mit derartigen Situationen umgehen zu können. Daher ist diese Zeit ein gefundes Fressen für die Verschwörungstheoretiker, aber auch für haltlose Schuldzuweisungen der Staaten untereinander. Hilfen gibt es dagegen tatsächlich in größerem Umfang. Ob das auch wirklich jedem lang genug hilft, wird sich wiederum zeigen. Gleichermaßen gibt es aber auch eine Definition von kritischen Infrastrukturen bzw. der für die Gesellschaft bedeutsamen Basisdienste. Die uneingeschränkte Funktionsfähigkeit dieser systemrelevanten Einrichtungen, Institutionen, Unternehmen, Berufsgruppen etc. hat aktuell oberste Priorität und führt gleichzeitig in vielen Kreisen zu Unverständnis. Warum? Es ist schon ein wenig beschämend, für sich feststellen zu müssen bzw. gesagt zu bekommen, man sei nicht systemrelevant. Als Kommunikationsagentur sehen wir uns genau mit dieser Einstufung konfrontiert, obwohl wir der Überzeugung sind, dass gerade in Krisenzeiten die Kommunikation umso wichtiger ist. Allerdings machen wir uns auch nichts vor. Wenn Ihnen die Maslowsche Bedürfnispyramide etwas sagt (https://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bedürfnishierarchie), dann müssen wir feststellen, dass unsere Gesellschaft aktuell von der Spitze wieder ganz unten angekommen ist. Es geht um den Erhalt von puren Existenzbedürfnissen, denn nicht einmal die zweite Stufe „Sicherheit“ ist für viele durch z.B. den garantierten Erhalt des Arbeitsplatzes erreichbar. Das funktioniert nur, wenn auch die Wirtschaft bzw. die Unternehmen funktionieren.

Die Situation ist wie sie ist und niemand kann verlässliche Erkenntnisse aus einem Blick in die Glaskugel ziehen. Doch es ist sicherlich der falsche Weg, dass gewisse Branchen und Unternehmen nun mit Vehemenz um den Status der Systemrelevanz kämpfen, wie es vielfach in den Medien zu beobachten ist. Das ist kein Ausdruck von Solidarität, sondern vielmehr ein Zeichen in Richtung „jeder ist sich selbst der Nächste.“ Je länger diese Krise andauert, um so mehr droht uns Gefahr, dass die gesellschaftliche Verrohung, wie sie bereits seit Jahren vornehmlich in den sozialen Medien zu beobachten ist, unkontrollierbare Züge annehmen wird. Das sollten wir alle gemeinsam unbedingt verhindern.

Unser persönlicher Beitrag kann an dieser Stelle nur sein, unseren Mitarbeitern, Kunden und Partnern zu versichern, dass sie in unserem kleinen Universum absolut systemrelevant sind, dass wir versuchen, auch weiterhin erreichbar zu bleiben, immer ein offenes Ohr haben und hoffen, dass wir diese Krise gemeinsam bestmöglich überstehen werden.

In diesem Sinne wünsche ich allen nur das Beste

Michael Schulte
Geschäftsführer

*Wissenwertes: der Sündenbock ist im ursprünglichen Sinne nicht der Verursacher, sondern eigentlich schuldlos und übernimmt nur die Schuld. Das setzt voraus, dass derjenige oder diejenigen, die die Schuld übertragen, sich selbst der eigenen Schuld bewusst sind. Leider wissen das wohl nur wenige, denn ansonsten würde dieser Begriff nicht so maßlos falsch verwendet.